Meine Lena

Fast lautlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer. Leonid hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

 

Er hatte eine verknitterte Jacke an, der ein Knopf fehlte. Er schaute sich verwirrt um. „Warum bin ich hier?“, fragte er sich. Er zuckte zusammen, wie vor Schmerz. Natürlich, er hatte sie zum Zug gebracht. Und jetzt war sie weg. Seine Lena war weg.

 

Der Zug löste sich in der Dunkelheit auf. Lena verschwand aus seinem Leben, als ob sie nie da gewesen wäre. Leonids Hände zitterten so stark, dass er es schwer hatte, die Zigarette zu seinen Lippen zu führen. Mutlos warf er sie auf den Bahnsteig und zertrat sie. Er drehte sich um und schlurfte nach Hause. 

 

Bittersüße Erinnerungen begleiteten ihn. Ihre blonden Strähnen hatten in seinem Gesicht gekitzelt, als sie sich in der Hochzeitsnacht geliebt hatten. Sie hatte nach Veilchen gerochen.

Danach stand sie vor dem Spiegel und schaute sich verwundert an. Ihre goldenen Haare waren zerzaust, ihr schlanker Körper und die kleinen Brüste hätten einem Kind gehören können. Auf ihren rotblonden Schamhaaren war Blut, das Blut ihrer Unschuld.

Sie hatte sich zu ihm umgedreht und unsicher gelächelt: „Ich bin jetzt eine richtige Frau.“

Er hatte geantwortet: „Hier“, und hatte ihr ein Handtuch gereicht, „du blutest.“

 

Die Lampe über seiner Wohnungstür war seit Tagen kaputt. Umständlich hantierte er mit dem Schlüssel in der Dunkelheit. Endlich klickte das Schloss und die Tür ging quietschend auf.

 

In der Wohnung roch es nach Wein. Im Bad über der Heizung hing ihr BH. Auf dem Waschbecken lagen ihre Zahnbürste und Gesichtscreme. „Komisch, warum hat sie das alles nicht mitgenommen?“, dachte er.

 

Er ging zum Bett. Etwas schnitt seinen Fuß. Warum lagen auf dem Boden überall Glasscherben? Der Teppich war feucht. War das alles Wein? Was war hier passiert? Er konnte sich nicht erinnern. Leonid war zu müde. Schlafen, er musste schlafen.

 

In seinem Traum sah er sie wieder, seine Lena. Sie war nicht alleine. Ein fremder Mann war bei ihr. Der Fremde hielt ihre Hand und streichelte zärtlich ihren Rücken. Sie schaute in seine Augen und schmiegte sich an ihn.

 

„Nein, das kann nicht sein“, dachte Leonid im Traum, „das ist meine Lena. Meine geliebte Lena. So wunderschön wie eine Porzellanfigur. Mich sollte sie umarmen. Zu mir sollte sie hoch schauen.“

Doch Lena lächelte den Fremden an und küsste ihn.

 

Er träumte, wie Lena danach nach Hause kam, ihre Augen glänzten vor Freude. Sie tanzte, drehte sich im Kreis, umarmte und küsste ihn. Leonid reagierte nicht und stand einfach wie versteinert da. Ihr Lächeln erstarb.

 

„Ich habe alles gesehen“, sagte er.

„Da war nichts“, antwortete sie.

„Ich habe es gesehen“, wiederholte er.

„Na und?“, fragte sie trotzig, „das geht dich gar nichts an.“

An seiner Schläfe fing eine Ader an zu pulsieren. Es fiel ihm schwer zu atmen. Heiße Wut stieg ihm in den Kopf. Leonid schnappte nach Luft und schlug ihr hart ins Gesicht. Er hatte sie bis jetzt noch nie geschlagen. Sie fiel hin und krümmte sich auf dem Boden. So schlank, so zerbrechlich. Er hob sie auf und wiegte sie wie ein kleines Kind. Er versuchte, sie zu küssen, sie zu beruhigen.

 „Geh weg! Lass mich in Ruhe! Du bist ein Monster“, schrie sie und wand sich aus seiner Umarmung.

„Ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir so leid“, sagte er.

„Komm mir nicht zu nah!“

 

Leonid streckte seine Hände nach ihr aus und ging auf sie zu. Sie kreischte und rannte zur Tür.

„Sie darf nicht weg“, dachte er verzweifelt, „Sie darf nicht zu ihm gehen.“

„Ich wollte schon länger weg von dir, alter Mann“, zischte sie.

„Bitte, bleib“, flüsterte er.

Hastig zog sie ihre Stiefel an. Leonid kam näher. Unterwegs wankte er und hielt sich am Tisch fest. Etwas Schweres lag plötzlich in seiner Hand. Danach krachte und klirrte es. Sie drehte sich zu ihm um.

Ihre Augen wurden groß, sie wurde bleich wie Schnee.

„Warum hat sie Angst vor mir?“, dachte er, „sie weiß doch, wie sehr ich sie liebe.“

 

Plötzlich wurde es vor seinen Augen schwarz. Er fiel, schrie, drehte sich und suchte nach einem Halt. Nur Leere und Dunkelheit umgaben ihn.

„Lena, Lena!“, rief er verzweifelt.

 

Die Dunkelheit verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Er taumelte. Was war hier los? Lena lag auf dem Teppich. Überall waren Glassplitter, alles war feucht und rot. Er schaute seine Hand an. In seiner Hand war ein Flaschenhals. Von seiner scharfen Bruchstelle tropfte etwas Rotes. Das dunkle satte Rot des Krimweines schien gemischt mit einem anderen leuchtenden Rot. War das Lenas Bltut?

 

Sein eigener Schrei weckte ihn auf. „Nein, nein, es ist nicht wahr. Das war nur ein Albtraum. Ich habe ihr nichts getan. Ganz bestimmt nichts. Sie wollte weg und ich habe sie gehen lassen. Ja, das habe ich“, dachte Leonid und wiegte sich vor und zurück, vor und zurück.

 

Im Waggon saß nur eine einzelne Frau. Sie schien zu schlafen, angelehnt an die Fensterscheibe.

"Die Fahrkarten bitte ", sagte die müde Kontrolleurin und rückte ihre Eulenbrille zurecht.

Die Frau wachte nicht auf. Genervt fasste die Schaffnerin sie an der Schulter. Die Schulter war unerwartet schlaff. Ein paar blonde Strähnen rutschten unter der Kapuze heraus. An den Strähnen klebte Blut. Mit einem Schrei sprang die Kontrolleurin zurück. Lenas Leiche rutschte nach vorn und kippte um, wie ein Sack Zement.

 

Es war kalt. Der Bahnsteig war leer bis auf drei Polizisten. Sie tranken dampfenden Kaffee aus Plastikbechern und rauchten. Der letzte Nachtzug glitt langsam in seine Endstation. Lenas letzte Reise war zu Ende.  

Das schwarze Loch

Das war ein letzter warmer Abend des Altweibersommers, an dem Alice das letzte Mal offen mit ihren Eltern sprach. Danach wurden sie für Alice zu Fremden und sie suchte Unterstützung bei Gleichaltrigen, im Alkohol und dann in einer Sekte.

Gestern hatte sie ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert. Die Feier war wie immer fürchterlich gewesen. Auf zwei Tagen ununterbrochenen Kochens folgten zwei Stunden Essen mit der lärmenden Verwandtschaft. Alice hatte keinen einzigen Freund eingeladen. Sie hatte keine Freunde. 

 In der Schule wurde Alice gehasst und ausgelacht. In der letzten Schuldisco hatten alle Mädchen mit Jungs getanzt, nur sie hatte allein dagestanden und sich hässlich gefühlt. 

 Als Alice an diesem Tag aus der Schule heimkehrte, kam sie an einer Baustelle vorbei. Die Nachbarskinder hatten früher Räuber und Gendarm auf der Baustelle gespielt. Jetzt bekam das „ewige“ Bauprojekt „schon“ ein Dach, aber die Fenster schauten Alice an wie die leeren Augenhöhlen eines Totenkopfes. 

 Sie wusste, dass im Haus manchmal ältere Jungs rumhingen. Sie beschleunigte ihren Schritt, da sie nicht von den älteren Jungen auch noch ausgelacht werden wollte. 

 „Hey, Schöne, wie heißt du?“, hörte sie eine Stimme aus dem Haus. Ein großer goldblonder Junge näherte sich ihr. 

 „Hi, ich heiße Alice“, sagte sie und wurde rot.

 „Ich bin Michail, ich habe dich schon öfters mal hier gesehen. Warum kommst du nicht zu uns und leistest uns nicht ein bisschen Gesellschaft?“ 

 Michail hatte eine nette und ruhige Stimme, er lächelte sie an und das Herz des Mädchens schmolz dahin. 

 Sie ging mit ihm. Sie war schon immer ein mutiges Mädchen gewesen. Sie saß im leeren Fenster auf dem kalten Stein, beschmutzte ihren Rock mit Zementmörtel und fühlte sich wie im Himmel. Die Jungs rauchten und tranken etwas aus einer Flasche. Das war ihr egal. Sie genoss die Aufmerksamkeit von Michail und fühlte sich für diesen einen Abend attraktiv und dazugehörig. Das erste Mal wurde sie für voll genommen. 

 „Wie spät ist es?“, fragte sie, als es ganz dunkel wurde. 

 „Halb elf“, sagte Michail. 

 „Oh je, ich muss schon längst zu Hause sein“, sagte Alice erschrocken. 

 „Darf ich dich nach Hause bringen?“, fragte Michail. 

 „Nein, nein, schon gut, ist nicht mehr weit, ich kenne doch den Weg“, antwortete sie schnell. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Michail sie begleiten wollte. 

 „Kommst du morgen wieder zu uns?“, fragte er, bevor sie ging. 

„Klar“, antwortete sie. Doch ihr Versprechen sollte sie leider nicht einhalten können.

„Wo warst du so lange?“, fragte ihre Mutter sie, noch bevor sie die Türschwelle passieren konnte.

Alice strahlte vor Glück. Sie wartete nicht lange und erzählte ihr alles.

„Du gehst da nicht mehr hin“,  sagte die Mutter.

„Aber warum? Sie waren doch voll nett.“ 

„Sie haben einen sehr schlechten Ruf, besonders dieser Michail, der dir so gut gefällt.“ 

„Aber Mama, sie haben mir nichts getan. Wir haben doch nur gesessen und geredet.“ 

„Diese Jungen sind viel älter als du, sie trinken und rauchen. Sie sind keine gute Gesellschaft für dich.“ 

„Ich gehe trotzdem hin, du kannst mich nicht aufhalten“, rief Alice verzweifelt. In ihrem Herzen entstand ein schwarzes Loch, in dem ihre ganze Freude ohne Spuren verschwand. 

 „Aber ich kann dich aufhalten“, sagte ihr Vater eiskalt, „ab jetzt gehst du einen Monat lang nicht mehr aus dem Haus. Du darfst nur zur Schule. Ich verbiete dir den Umgang mit diesen Typen, sonst wirst noch länger zu Hause sitzen müssen.“ 

 Das war so unfair. Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Eltern sich wie ihre Feinde benehmen würden. Wie konnte das sein, dass sie so wenig Verständnis für sie hatten? Das schwarze Loch in ihrem Herzen saugte jetzt auch das Vertrauen und auch einen Teil der Liebe zu ihren Eltern in sich in sich auf. 

Die Eltern zogen die Bestrafung durch. Bald danach wurde sie auf ein Internat in einer anderen Stadt geschickt. Mit  Michail konnte sie nie wieder sprechen. 

Als erwachsene Frau ging sie mit ihrem Kind an dem Haus vorbei und dachte immer noch an die Ereignisse dieses Tages. Das Geschehen kam ihr nun unwichtig vor. Sie liebte ihre Eltern und kümmerte sich um sie. Nur von ihren echten Gefühlen und Problemen hörten ihre Eltern nie mehr von ihr. Wenn ihre Eltern sie fragten, wie es ihr ging, antwortete sie immer, dass alles gut sei. Das schwarze Loch war verschwunden, aber das Vertrauen zu ihren Eltern hatte es nie wieder zurückgegeben.

 

 

 

 

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